Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Karl Marx, das Kapital, erster Band.
9 Millionen Euro hat eine Investorenkette für eine Orthopädenpraxis auf dem platten Land gezahlt. Von 9.000.000 € könnte man unsere Praxis 20fach neu gründen – mit Möbeln, Großgeräten, EDV und Erstbezugsgrundreinigung. Ich fand schon die 400.000 € pro Arztsitz, die mir zwei MVZs anlässlich meiner Tumorerkrankung für die Übernahme angeboten haben, in vielerlei Hinsicht sittenwidrig. Zunächst die persönliche Mitteilung: Ich habe den Tumor gut überstanden, bin ein Jahr rezidiv- und medikamentenfrei und gedenke trotz buchtechnisch 100% Grad der Behinderung noch lange weiterzuleben und zu arbeiten. Dann fand ich einen „unter-vier-Augen-Kommentar“ eines Geschäftsführers eines iMVZ kennzeichnend für Teile der Branche: „Na ja, Budgetüberschreitungen sind bei uns selbstverständlich nicht drin. Wir können Ihnen die Behandlung von überteuerten Patienten nicht gestatten. Wenn Sie das realisieren, bekommen Sie bestimmt eine Depression und sind erstmal – sagen wir – ein dreiviertel Jahr krankgeschrieben. Dann sind die Rheumapatienten weg und wir haben den Sitz sicher.“ iMVZ bedeutet investorengeführtes MVZ, die Erwirtschaftung von Renditen steht vor ethischen und moralischen Beweggründen. Vielleicht stehen Ethik und Geld auch gleichberechtigt nebeneinander und Finanzkapitalgesellschaften sind gemeinnützige Einrichtungen. Dann hab ich wohl etwas falsch verstanden.
Wir verkaufen nicht an ein MVZ. Punkt.
Mein Vater hat um 2006 seine Praxis nach der Berentung an ein MVZ verkauft, danach dem Niedergang seiner Praxis und den Nöten seiner Patienten zusehen müssen. Eine Weile hat er „ein bisschen“ weitergearbeitet, dann hat die kassenärztliche Vereinigung den Sitz vom MVZ rückübertragen. Er hat bis zu seinem Ableben im 73. Lebensjahr seine Patienten weiterversorgt. Das war eine hässliche Geschichte.
Nicht nur gefühlt nehmen MVZ (offiziell Medizinische Versorgungszentren) derzeit zu wie Umweltschäden und AFD-Plakate. Der Grundgedanke des MVZ: Ein Arzt sollte als Arzt arbeiten können und sich nicht um Lohnbuchhaltung, Finanzlangfristplanung, Fußbodenreinigung und EDV-Pflege kümmern müssen, ist gut. Ärzte sind Freiberufler und müssen sich um sämtliche Organisation persönlich kümmern oder teuer delegieren. Manche Kollegen können das nicht oder wollen nicht mehr. Wenn die Kassenärztliche Vereinigung dann in einem unterversorgten thüringischen Landkreis einen Eigenbetrieb gründet, wo sich ein Geschäftsführer sich um all diese Dinge kümmert, während 22 eigentlich lange berentete Kollegen 5 Arztarbeitsplätze teilen, soweit Gesundheit, Urlaubswünsche und Enkel das zulassen, dann ist das lobenswert. Sonst möchte in manchen Gegenden kein junger Arzt arbeiten. Gerade die Einführung der Telematikinfrastruktur tut man sich als alternder Arzt, der noch das Fax gewohnt ist, ungern auf die letzten 2 Jahre vor der Rente an, erst recht nicht die ersten 8 Jahre nach der Rente mit jedes Jahr neuem Chaos in der Telematikinfrastruktur. So lange arbeiten Ärzte durchschnittlich – bis 73.
Etwas problematischer wird es, wenn Krankenhäuser Arztsitze kaufen, um mit einer sogenannten Portalpraxis Einweisungen für ihre operativen Kapazitäten zu generieren. Die Geschäftsführer und die Kollegen sind dann regelmäßig enttäuscht, wenn die Patienten nicht mit dem Wunsch nach „Knie-TEP links, Hüfte rechts!“ in die Sprechstunde kommen, sondern nicht operierbare Fersensporne zeigen, Einlagen wollen oder ganz viel Krankengymnastik und eine Beratung zur Verhinderung der lukrativen Knieendoprothese wünschen. Die Patienten sind dann gelegentlich enttäuscht, vereinbaren den nächsten Besuch bei einem nicht kettengebundenen Kollegen und schimpfen über die lange Wartezeit, die sie im MVZ nicht hatten. Hier in Gifhorn haben wir derzeit 2 Kollegen im MVZ des Herzögin-Elisabeth-Heim Braunschweig (einer davon kurz vor der Rente), 2 Kollegen im MVZ der Helios GmbH (einer davon arbeitet offiziell heute an drei verschiedenen Orten gleichzeitig), 2 überwiegend unfallchirurgisch tätige Kollegen für Unfallchirurgie und Orthopädie auf ehemaligen Unfallchirurgischen Sitzen und mit den Dres. Merkel, Pröve und 2x Sensse noch 4 frei und konservativ orthopädisch arbeitende Kollegen ohne Geschäftsführer im Nacken.
Nach einer Erhebung der bayrischen Ärztekammer ist erwiesen, das arztgeführte MVZ im Durchschnitt 5,8 % mehr pro Patient abrechnen, investorengeführte MVZ deutlich mehr. Mit der Qualität oder dem Inhalt der Behandlung konnte man das nicht erklären.
Natürlich weiß ich nicht, ob ich das MVZ Helios jetzt als krankenhausassoziierte Arztpraxis rechnen soll oder als investorengeführte Einrichtung zur Erzielung von Gewinnen, nur weil die Großinvestoren Fresenius und Blackrock (ich denke an Herrn Bundeskanzlerkandidatenbewerber Friedrich März) dahinterstehen. Die Konzerne haben auf jeden Fall politischen Rückenwind, wenn man die GesundheitsministerInnen Herrn Professor Lauterbach (ehemaliger Aufsichtsrat der Rhön AG), Jens Spahn (Gründer der Pharmalobbyagentur Politas), Daniel Bahr (ehemals Vorstand der Allianz privaten Krankenversicherung) und Ulla Schmidt (Vorstand der Siegfried Holding, Pharmaunternehmen der Schweiz) ansieht. Gesundheitsminister dazwischen waren Hermann Gröhe und Philip Rösler. Die waren sauber und haben keine großen Beiträge zum MVZ-Vormarsch geleistet. Man kann zusammenfassen: „Die Industrialisierung der ambulanten Medizin schreitet voran.“
Was hat der Arzt von einem MVZ?
- Zunächst sind viele Praxen derzeit unverkäuflich, es finden sich keine Nachfolger für die überalterte Ärzteschaft. Bevor niemand die Versorgung übernimmt, kauft das nächste Krankenhaus oder die Gemeinde den Sitz, um mit angestellten Ärzten irgendwie weiterzumachen. Da in strukturschwachen Gegenden alle Fachrichtungen schwer zu bekommen sind, entstehen so schnell größere lokale Strukturen. Das hat wenig mit dem iMVZ zu tun, die sitzen in den großen Städten und kaufen Radiologie-, Augen- oder Zahnarztpraxen und neuerdings auch andere Fachrichtungen. Der Arzt hat eine bessere Alterssicherung vom MVZ.
- Der Arzt bringt seine medizinische Expertise in die Praxis ein, behandelt Patienten und erhält dafür ein festes Gehalt. Es ist meist deutlich weniger als ein Erlös einer frei niedergelassenen Praxis, aber sicher und konstant. Man kann als Kassenarzt auch mal rote Zahlen schreiben.
- Man ist Arzt. Alle nebenbei erworbenen Kompetenzen als BWLer, Informatiker, Jurist und Handwerker sind unnötig, um den Fortbestand der Praxis kümmert sich die Geschäftsführung.
- Die Lebensplanung ist flexibel. Wenn man sich als Arzt niederlässt, hat man zunächst einen großen Schuldenberg und bezahlt 10-20 Jahre Kredite ab. Wenn die Arbeitsbedingungen im MVZ nicht gefallen, der kann gesetzlich kündigen und irgendwo anders neu anfangen, auch in Teilzeit, mit Sabbatical und was die work-life-Balance so an Annehmlichkeiten bietet.
- Mutterschutz und Elternzeit gibt es nicht für selbständige Ärztinnen, im MVZ schon.
- Geld. Überraschend lassen sich mit Arztpraxen hohe Gewinne erwirtschaften und so werden für die nötigen Kassenarztsitze sechsstellige Summen gezahlt.
- keine Investitionskosten als Berufseinsteiger.
- bei MVZ aus mehreren Fachrichtungen eine bessere Vernetzung zwischen den Disziplinen. Das geht allerdings auch bei Ärztehäusern, wichtig sind die räumliche Nähe und der Wille zur Kommunikation.
Was stört einen Arzt am MVZ?
- Der Arzt ist Teammitglied, nicht mehr Chef. Offiziell darf sich ein MVZ-Geschäftsführer nicht in medizinische Belange mischen. Trotzdem werden ständig Informationen über Anweisungen wie Budgeteinhaltung, OP-Einweisungsquote, Abweisung bestimmter Patientengruppen etc. diskutiert. Da die Medizinischen Fachangestellten nicht dem Arzt, sondern der Praxismanagerin unterstellt sind, hat das Management sehr viel zu entscheiden, der Arzt entsprechend wenig.
- In großen Ärzteteams leidet die Arzt-Patientenbindung. Auch in großen Gemeinschaftspraxen wird man häufig von nach Dienstplan wechselnden Ärzten behandelt. Das Problem nimmt mit der Größe der Struktur zu. Wir haben im Nordkreis Gifhorn ein großes Hausarzt-MVZ mit mindestens 4 Standorten. Laut Homepage sind einige Ärzte an mehreren Standorten beschäftigt. Als Steigerung vermietet das MVZ die Gifhorner Sprechzimmer an ein weiteres MVZ unter.
Die Patienten beklagen häufig wechselnde Behandler, kennen ihren Arzt meist nicht mit Namen und wissen durch die Räumlichkeitenteilung noch nicht einmal sicher, bei welchem MVZ sie Patienten sind. Im Umkehrschluss dürfte auch der Arzt die Patienten nicht ganz so gut kennen wie in der inhabergeführten Praxis, wo man mit dem Inhaber redet.
Was hat ein Patient vom MVZ?
- In einem MVZ aus verschiedenen Fachrichtungen sollte die Patienten von der engen Zusammenarbeit profitieren. Wir haben allerdings MVZs in der Nähe, die Diagnostik überweisen, die sie selbst intern fachlich, aber nicht von der Kapazität her leisten können.
- Immer einen Ansprechpartner. In einem MVZ haben selten alle gleichzeitig Urlaub, bei mehreren Ärzten gibt es auch längere Öffnungszeiten.
- ärztliche Versorgung. Die freie Arztwahl ist meist durch Kapazitätsgrenzen eingeschränkt. Man muss in strukturschwachen Gegenden wie Gifhorn froh sein, wenn es noch ein MVZ gibt, das Ärzte beschäftigt.
- für Menschen mit Migrationshintergrund häufig ein sprachlich und kulturell breiter aufgestelltes Team als in der Einzelpraxis.
- eine schönere Homepage und eine einfachere Kommunikation mit der Praxis. Geschäftsführer und Praxismanager sind kommunikationsgeschult und marketingorientiert und haben Zeit für so etwas.
Was stört Patienten an MVZs?
Ohne Zweifel: Es gibt gut funktionierende MVZs, mit denen wir gern zusammenarbeiten. Die Regel ist das leider nicht.
- Häufig hören wir Klagen über wechselnde Ansprechpartner während einer Behandlung in MVZs.
- Das Problem, dass ein niedergelassener Arzt eingeschränkt oder kein Deutsch spricht, haben MVZs und Krankenhäuser exklusiv. Kein kommunikationsgestörter Arzt bekommt eine Zulassung als Kassenarzt. Im MVZ fällt so etwas weniger auf, da muss nur der ärztliche Leiter offiziell mit der Kassenärztlichen Vereinigung kommunizieren.