Der Hausarztvermittlungsfall als Tempomacher

Seit dem 1.1.2023 gibt es ein paar neue Abrechnungsmöglichkeiten und schon gibt es kluge Menschen, die neue Optionen für schnelle Terminvermittlungen unter Umgehung der Warteschlange sehen. Grundsätzlich muss man sagen, dass der Gesetzgeber mit seinen vielen Initiativen von der Terminservicestelle über die offene Sprechstunde, die Neupatientenregelung bis jetzt zum Hausarztvermittlungsfall die Anzahl der möglichen Facharzttermine nicht verändert hat. Dazu müsste er entweder mehr Fachärzte ausbilden und zulassen oder die jetzt vorhandenen Fachärzte durch irgendetwas (Wertschätzung, mehr Geld, weniger Bürokratie oder mehr zu Personal delegierbare Leistungen) zu mehr Terminen in der gleichen Zeit motivieren. Ein schöner Traum, so etwas hat noch kein Gesundheitsminister getan. Bei den ersten drei Punkten ist eher das Gegenteil ein Problem.

Das GKV-Stabilisierungsgesetz ist also eine neue Variante, den Mangel zu ignorieren. Jeder Termin, den der Hausarzt dringend vermittelt, fehlt woanders. Es ist auch nicht so, dass Haus- und Fachärzte vorher nicht telefoniert haben und ein Gesundheitsminister uns nun diese wichtige Option aufzeigt. Nein: Der Hausarztvermittlungsfall gibt nur jetzt etwas Geld unter eng umrissenen Bedingungen für die Terminvermittlung durch den Hausarzt und deutlich mehr Geld unter großzügigeren Bedingungen an den Facharzt.

Was bedeutet das konkret?

Der Hausarzt sieht einen dringenden Behandlungsbedarf und ruft beim Facharzt an. Wenn er einen Termin bis zum 4. Folgetag erwirkt, darf er eine 03008 a 15 € fürs Telefonieren oder fürs Notfallfax abrechnen, muss aber noch den Patienten über den Termin informieren.

Der Facharzt bekommt für den Anruftag und den Folgetag einen Zuschlag der doppelten Grundpauschale, also für einen Erwachsenen 44,12 € beim Orthopäden und dazu den Patienten extrabudgetär, was je nach Arbeitsumfang und Praxiskonstellation noch einmal bis 50 € zusätzlich bedeutet.

Für den Patienten, der am Tag 2-4 nach Anruf im Programm ist, gibt es 100 %, also um 20 € extra, bis 14 Tage 16 € extra und bis zum 35. Tag 8 € und dazu immer dieses mathematisch schwer im Wert festzulegende: „Der Patient ist extrabudgetär.“ Bei uns bedeutet extrabudgetär zum Beispiel nichts, weil sowieso alle Rheumapatienten extrabudgetär sind. Anders könnten wir die aufwändige Rheumatologie in einer orthopädischen Praxis nie betreiben.

Der guten Ordnung halber: Die Regelung Hausarztvermittlungsfall löst die Neupatientenregelung ab, bei der die Fachärzte alle „Neupatienten“, also alle, die sie in den letzten 2 Jahren nicht gesehen hat, extrabudgetär bezahlt bekam. Damit wollte man die Fachärzte motivieren, mehr Neupatienten zu nehmen. Da das die Kapazitäten nicht erweitert hat, hat es nicht funktioniert – siehe oben. Den Fachärzten hat man mit dem Hausarztvermittlungsfall richtig viel Geld weggenommen. Entsprechend sauer sind viele Fachärzte über die neuen Regeln.

Das regte dann gleich einige MVZs zum kreativen Umgang mit dem Gesetz (traditionell Betrug genannt) an. Es ist nicht gemeint, dass der Facharzt geplante Patienten zum Hausarzt schickt, damit der 3 Tage vorm geplanten Termin einmal geplant dringend anruft. Und es ist erst recht nicht gemeint, dass der Facharzt Notfälle, die bei ihm schon am Tresen stehen, zum Hausarzt zwecks Vermittlung zurückschickt. Insbesondere ist ausgeschlossen, dass die Patienten, die die offene Spechstunde besuchen, erst mal zum Hausarzt geschickt werden, um einennVermittlungsfall zu generieren. Diese Ideen sind leider so verbreitet, dass sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung zu einem Rundschreiben gegen diesen Unfug genötigt sah.

Es ist übrigens auch nicht gemeint, dass der Patient festlegt, er sei Notfall und der Hausarzt habe für ihn beim Facharzt anzurufen.

Fazit für uns: Wir haben mehr dringende Anfragen als Behandlungsplätze. Daher werden wir Notfallanfragen mit dem Begleittext „Hausarztvermittlungsfall“ genauso wertschätzen wie alle anderen Anfragen ohne Unterlagen – garnicht. Wenn bei einer Anfrage neben aktuellen schlechten Laborwerten zufällig auch noch eine Anfrage „Hausarztvermittlungsfall“ dabei ist, dann hat der Hausarzt sich nach meiner Meinung die 15 € redlich verdient.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Hausärzte, die Unterlagen und Informationen mitschicken, eher durch Patientenwohl motiviert sind als durch die 15 €. Deshalb machen wir den Mist mit dem Hausarztvermittlungsfall nur eingeschränkt mit. Wir teilen unsere Nummern mit, damit der Hausarzt sein Geld bekommt. Wir bekommen auch etwas Geld. Aber wir werden keinen Patienten vorziehen, weil er hausarztvermittelt ist. Dringlichkeit muss medizinisch begründet sein, nicht pekuniär (lateinisch für geldgetrieben).

Gut an dem Gesetz finde ich übrigens,  dass es die Haus- und Fachärzte dazu motiviert, sich zu vernetzen. In Gifhorn gibt es jetzt eine Datensammlung mit den Backofficenummern, Fax-, email- und KIM-Verbindungen fast aller Fachärzte. Wegen der Rückrufe soll auch eine Datensammlung der Backofficenummern der Hausärzte dazukommen – sie sind genauso schlecht zu erreichen wie wir, wenn mal Unterlagen fehlen.

Unsere Kollegentelefon steht übrigens nicht in der Datensammlung. Es gibt leider genug Kollegen, die bei Notfällen schwindeln, damit ihre Patienten eher Termine bekommen und mit denen möchte ich nicht reden. Da möchte ich Unterlagen sehen. Die Weitergabe einer Telefonnummer ist Arztpflicht, die Weitergabe einer Direktrufnummer Vertrauenssache.

Und das GKV-Stabilisierungsgesetz wäre das erste Gesetz, was mit weniger Geld mehr Leistung generiert. Wir glauben nicht dran.

Nachtrag 15.2.23: Die Kassenärztliche Vereinigung hat die Vergabe von Hausarztvermittlungsfällen (ohne medizinische Informationen) mit einem Online- Tool unterstützt. Weil wir Optimisten sind, haben wir 5 Notfalltermine angeboten. Ganz schnell stand der erste Patient drin: Terminservicestelle, Holzminden, keine Dringlichkeit. Projekt Onlinetool ist vorerst gescheitert. EDV im Gesundheitswesen können wir so gut wie Berlin Wahlen.

Nachtrag 30.5.23: heute hatten wir nach dem Urlaub zum ersten Mal über 70 Hausarztvermittlungsfälle – das kann niemand abarbeiten. Dabei waren neben Briefen, Emails und Faxen erstmals auch e-Arztbriefe über KIM mit Anfragen Hausarztvermittlungsfall. Es ist besonders unglücklich, weil die bisher unbekannten Patienten EDV-technisch angelegt werden müssen, bevor man die beigefügten Unterlagen lesen kann. Anderthalb Stunden vergingen nach Feierabend beim „Nein!-keine Kapazität“ sagen.

Nachtrag 6.9.23: Zitat einer freundlichem Hausärztin, der ich gerade einen Hausarztvermittlungsfall ohne alle Daten verweigert habe. Vorgeschichte: Der Patient war woanders vorbehandelt, sollte die Unterlagen des (12 km von seinem Wohnort praktizierenden) Vorbehandlers beibringen, bevor er bei uns einen Termin erhält. Anstatt dies zu tun, geht er zur Hausärztin, erklärt den Helferinnen „Ich bekomme bei Dr. Sensse sofort einen Termin, wenn Sie ein Fax mit HAV schicken!“ Die freundlichen Helferinnen machen das und ich maile zur Hausärztin „Was soll das?“ Ihre Antwort: „HAF macht mich als Hausärztin komplett wahnsinnig. Jeder Patient erwartet, dass er eine HAF-Überweisung bekommt und es gibt nur Ärger, wenn der Hausarzt so eine Überweisung verweigert. Es gibt aber auch Praxen, welche die Patienten nur mit HAF annehmen, wobei der geplante Termin seit vier Monaten fest steht! Kann auch nicht sein…“ Recht hat sie und mein volles Mitgefühl. Der Patient bekommt immer noch keinen Termin. Keine Daten – keine Dringlichkeit. Undringliche Termine werden selten. Wenn wir hinten an der Warteschlange Termine in 3 Monaten vergeben, haben wir in 3 Monaten keine Notfallkapazitäten mehr. Das Boot ist voll.

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